Stell dir vor, du willst eine Wohnung in Berlin oder München verkaufen. Der Nachbar hat vor sechs Monaten 800.000 Euro dafür bekommen. Jetzt fragst du dich: Ist das noch der richtige Preis? Die Antwort ist nicht einfach. In angespannten Märkten bewegen sich Preise so schnell, dass alte Vergleichswerte kaum noch etwas sagen. Die Immobilienbewertung ist nicht mehr eine Rechnung mit festen Zahlen - sie ist eine Prognose mit Unsicherheiten. Und wer das nicht versteht, macht Fehler. Große Fehler.
Was macht einen Markt eigentlich zu einem angespannten Markt?
Ein angespannter Wohnungsmarkt ist kein Begriff, den man einfach so benutzt. Es gibt klare, messbare Regeln. Laut dem Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen gilt ein Markt als angespannt, wenn drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: Erstens, es gibt mindestens 10 Prozent weniger Wohnungen als benötigt. Zweitens, die Leerstandsquote liegt unter 1,5 Prozent. Drittens, die Mieten sind in drei Jahren um mindestens 10 Prozent gestiegen. Diese Zahlen kommen nicht aus der Luft. Sie sind gesetzlich verankert - und sie bestimmen, ob die Mietpreisbremse greift.In Städten wie München, Frankfurt oder Hamburg sind diese Bedingungen seit Jahren erfüllt. In München stiegen die Quadratmeterpreise für Eigentumswohnungen zwischen 2018 und 2022 um 42 Prozent. In Brandenburg dagegen, wo der Markt nicht angespannt ist, lag der Anstieg bei nur 9,3 Prozent. Das ist kein Zufall. Es zeigt: Der Preis einer Immobilie hängt nicht nur von ihrer Größe oder dem Zustand ab. Er hängt vom Markt, in dem sie steht.
Warum die klassischen Bewertungsmethoden versagen
In Deutschland gibt es drei Standardmethoden, um Immobilien zu bewerten: das Vergleichswertverfahren, das Ertragswertverfahren und das Sachwertverfahren. Sie funktionieren gut - solange der Markt ruhig ist. In angespannten Märkten brechen sie zusammen.Beim Vergleichswertverfahren schaust du dir vergleichbare Verkäufe an. Aber was, wenn es in deiner Straße nur noch drei vergleichbare Objekte gibt - und die sind alle älter als ein Jahr? In Berlin fehlen bis zu 35 Prozent der benötigten Vergleichsdaten. Gutachter müssen dann auf hypothetische Objekte zurückgreifen. Das erhöht die Unsicherheit um bis zu 15 Prozentpunkte. Ein Objekt, das vor einem Jahr 700.000 Euro wert war, könnte heute 800.000 Euro kosten - aber die Daten sagen dir das nicht.
Beim Ertragswertverfahren rechnest du den Mietwert um in einen Kaufpreis. Normalerweise multiplizierst du die Netto-Kaltmiete mit einem Faktor zwischen 15 und 23. In angespannten Märkten ist das falsch. Die Mietpreisbremse begrenzt, wie viel du tatsächlich verlangen darfst. Ein Haus, das theoretisch 2.000 Euro Miete einbringen könnte, darf nur 1.700 Euro verlangen. Das senkt den Ertragswert um bis zu 25 Prozent. Wer das nicht berücksichtigt, überschätzt den Wert massiv.
Beim Sachwertverfahren berechnest du den Wert des Gebäudes - Grundstück, Baukosten, Abschreibungen. Es klingt logisch. Aber in angespannten Märkten zahlt niemand für den Sachwert. In Hamburg-Niendorf liegen die Verkaufspreise im Durchschnitt 22 Prozent über dem rechnerischen Sachwert. Warum? Weil die Nachfrage so hoch ist, dass Leute bereit sind, mehr zu zahlen - egal was die Zahlen sagen.
Die Preisdynamik ist nicht linear - und das ist das Problem
Klassische Modelle gehen davon aus, dass Preise sich gleichmäßig steigern. In der Realität passiert das nicht. In den sieben größten deutschen Städten mit angespannten Märkten stiegen die Preise exponentiell: 2015-2017: 4,2 Prozent pro Jahr. 2018-2020: 8,7 Prozent. 2021-2022: 12,3 Prozent. Das ist kein linearer Anstieg. Das ist ein Beschleunigungsschub.Das Vergleichswertverfahren prognostizierte für denselben Zeitraum nur 5,8 Prozent jährliche Steigerung. Das ist ein Fehler von fast 110 Prozent. Wer sich nur auf diese Prognose verlässt, kauft zu teuer - oder verkauft zu billig. Die echte Dynamik lässt sich nur mit aktuellem Datenmaterial erfassen. Und das gibt es nicht in den alten Gutachtertabellen.
Risikopuffer: Drei praktische Lösungen aus der Praxis
Gutachter haben gelernt: In angespannten Märkten braucht man Puffer. Nicht nur für die Bank, sondern für sich selbst. Drei Methoden haben sich bewährt.Erstens: Dynamische Korrekturfaktoren. Der Gutachterausschuss in Nordrhein-Westfalen hat einen Score entwickelt, der die Marktspannung misst. Je höher die Spannung - je niedriger die Leerstandsquote, je höher die Mietsteigerung - desto höher der Aufschlag auf den Grundstückswert. Er reicht von 5 bis 20 Prozent. Ein Objekt, das sonst 500.000 Euro wert wäre, wird dann mit 525.000 bis 600.000 Euro bewertet - je nach Lage und Druck.
Zweitens: Szenarioanalysen. Ein Gutachter rechnet nicht nur einen Wert aus. Er rechnet drei aus: optimistisch, realistisch, pessimistisch. Was passiert, wenn die Zinsen weiter steigen? Was, wenn die Mietpreisbremse verschärft wird? Was, wenn 500 neue Wohnungen in der Nachbarschaft gebaut werden? Diese Szenarien zeigen, wie stabil der Wert wirklich ist. Keine Bank sollte mehr einen Kredit ohne solche Analyse gewähren.
Drittens: Zeitraumkorrekturen. Ein Verkauf aus dem Jahr 2022 ist heute wertlos - wenn der Markt sich monatlich um 0,8 Prozent verteuert. In Berlin wurde 2022 ein monatlicher Korrekturfaktor von 0,78 Prozent angewendet. Das bedeutet: Ein Verkauf vom Januar 2022 muss um 8,6 Prozent nach oben korrigiert werden, um den Stand vom Dezember 2022 zu erreichen. Wer das nicht macht, bewertet mit alten Daten - und landet mit einer falschen Zahl.
Was passiert, wenn du die Risiken ignorierst?
Die Folgen sind nicht nur finanziell - sie sind juristisch und professionell. Dr. Markus Riecke-Zapp vom Institut für Standardisierung im Immobilienwesen sagt: „Das traditionelle Dreisäulenmodell erreicht seine Grenzen.“ Prof. Dr. Martin Werwatz vom ZEW hat berechnet: In angespannten Märkten überschätzen klassische Verfahren den Wert von Wohnimmobilien durchschnittlich um 18,7 Prozent. Das ist kein kleiner Fehler. Das ist ein Verlust von mehreren zehntausend Euro.Ein Investor aus München kaufte 2021 eine Wohnung, die nach Sachwertverfahren 650.000 Euro wert war - und zahlte 820.000 Euro. Zwei Jahre später fiel der Wert auf 710.000 Euro - nicht weil das Haus schlechter wurde, sondern weil die Zinsen stiegen und der Markt sich beruhigte. Der Sachwert blieb gleich. Aber der Marktwert schwankte wie eine Aktie.
Ein Gutachter aus Berlin berichtete, dass er bei einem Objekt in Friedrichshain den Vergleichswert um 22 Prozent nach oben korrigieren musste - weil alle Vergleichsverkäufe älter als sechs Monate waren. Die Bank wollte den Kredit nicht genehmigen. Es dauerte Wochen, bis die Korrektur akzeptiert wurde. Die Bewertung dauerte 40 Prozent länger als normal. Mehr Zeit. Mehr Stress. Mehr Risiko.
Was sich 2025 ändert - und warum du es wissen musst
Die Zahl der angespannten Märkte wächst. 2015 waren es 12 Städte. 2023 sind es 47. Bis 2027 könnte sich diese Zahl verdoppeln - laut Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft. Das bedeutet: Bald gilt das nicht mehr nur für München oder Berlin. Sondern auch für Linz, Salzburg, oder kleinere Städte mit steigender Bevölkerung.Ab 2024 soll die Immobilienwertermittlungsverordnung (ImmoWertV) geändert werden. Dann müssen alle drei Bewertungsverfahren explizit die Marktspannung berücksichtigen. Das ist ein großer Schritt. Aber es reicht nicht. Prof. Dr. Andreas Pfnür von der TU München warnt: „Die aktuellen Risikopuffer sind noch nicht kalibriert.“ Er will Finanzmarktindikatoren wie Zinsentwicklungen und Kapitalflüsse einbeziehen. Denn: Wer die Zinsen nicht in die Bewertung einrechnet, versteht den Markt nicht.
Und dann gibt es noch die neue Methode: Machine Learning. Der Deutsche Gutachterausschuss hat im Februar 2023 empfohlen, KI-Modelle zu nutzen, um Bewertungsfaktoren dynamisch anzupassen. Das ist kein Science-Fiction. Das ist Realität. In einigen Großstädten wird es schon getestet.
Was du jetzt tun kannst
Wenn du eine Immobilie bewerten lässt, stelle klar: „Ist der Markt angespannt? Welche Korrekturen wurden angewendet? Welche Szenarien wurden berechnet?“ Verlange die Daten. Frag nach den Vergleichsobjekten. Prüfe, ob der Gutachter den Zeitraum korrigiert hat. Und frage: „Was wäre der Wert, wenn die Zinsen auf 5 Prozent steigen?“Wenn du verkaufst: Lass dich nicht von einem hohen Angebot blenden. Prüfe, ob es realistisch ist. Ein Preis von 800.000 Euro klingt gut - aber wenn er auf Basis von Daten aus 2021 berechnet wurde, ist er falsch.
Wenn du kaufst: Vermeide den Fehler, den viele machen - du glaubst, ein hoher Preis bedeutet Sicherheit. Nein. In angespannten Märkten ist ein hoher Preis oft ein Risiko. Der Markt kann sich drehen. Und wenn er das tut, fällt der Wert schneller, als du denkst.
Die Immobilienbewertung ist heute kein Rechenexempel mehr. Sie ist eine Einschätzung - mit Daten, mit Erfahrung, mit Vorsicht. Wer das versteht, handelt sicher. Wer das nicht versteht, zahlt den Preis.